Die Konzentration der russischen Truppen an der Grenze zur Ukraine und das daraus resultierende Angriffspotenzial stehen seit Ende 2021 im Zentrum der Geopolitik. Zahlreiche diplomatische Gespräche scheiterten bislang an der Kernforderung Russlands, eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine verbindlich auszuschließen, und an den fehlenden Fortschritten bei der Umsetzung der Minsker Verträge, des Abkommens zur militärischen und politischen Beilegung des Konfliktes in der Ostukraine. Nun hat die russische Führung am 21. Februar entschieden, die Unabhängigkeit der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk von der Ukraine anzuerkennen und Truppen in die beiden Territorien zu entsenden.

Vorausgegangen war ein entsprechender Appell der prorussischen Separatisten in der Ostukraine sowie des Unterhauses des russischen Parlaments. Dies bringt den Konflikt zwischen Russland und dem Westen in die nächste Eskalationsphase. Da diese Entscheidung Russlands die territoriale Integrität der Ukraine beeinträchtigt, sind baldige Sanktionen des Westens gegen Russland wahrscheinlich. Deren Ausmaß wird nach unserer Einschätzung davon abhängen, ob Russland weitere militärische Schritte gegen die Ukraine vornimmt. Die USA warnen weiterhin eindringlich vor einer baldigen Invasion Russlands in der Ukraine. Denn die militärischen Kapazitäten Russlands hierfür seien nun ausreichend aufgebaut. Unserer Einschätzung zufolge wäre eine groß angelegte Invasion in der Ukraine für Russland sowohl international aufgrund der harten westlichen Sanktionen als auch im Inland aufgrund der zu befürchtenden Verluste in den eigenen Reihen mit sehr hohen Kosten verbunden. Dies bleibt für uns das unwahrscheinlichere Negativ-Szenario.

Vorerst haben die USA nur die Finanzierung der Separatistengebiete mit Sanktionen belegt, weitere Maßnahmen dürften im Ver- lauf der Woche folgen. Aus dem in den USA und der EU diskutierten Sanktionskatalog erscheinen in der aktuellen Konfliktphase vor allem einige persönliche Sanktionen gegen die russische Führungs- und Wirtschaftselite sowie ein Verbot von Transaktionen mit neu begebenen russischen Staatsanleihen wahrscheinlich. Auch Exportverbote im Technologiebereich oder Sanktionen gegen die Pipeline „Nord Stream 2“ könnten schon eingesetzt werden. Die systemischen Sanktionen gegen russische Finanzinstitute, die deren Zugang zu Transaktionen in US-Dollar oder Euro deutlich einschränken würden, dürften für weitere Eskalationsstufen vorbehalten bleiben. Die russische Exporttätigkeit dürfte durch die westlichen Sanktionen vorerst nicht zum Erliegen kommen, sodass eine physische Rohstoffknappheit zunächst unwahrscheinlich erscheint. Insgesamt wird durch die westlichen Sanktionen der Zugang Russlands zum internationalen Finanzmarkt erschwert, und die Konjunktur des Landes wird geschwächt. Die Zahlungsfähigkeit Russlands dürfte aufgrund der soliden Ausstattung mit Devisen- und Fiskalreserven allerdings erhalten bleiben.

Wirtschaftliche Verflechtung vor allem über die Rohstoffmärkte bedeutend

Die Bedeutung Russlands insbesondere für Europa erwächst aus seinem großen Schatz an Rohstoffen, insbesondere aufgrund der Erdgaslieferungen. Mehr als die Hälfte der deutschen Erdgasimporte über Pipelines stammt aus Russland, zu einem bedeutenden Teil auf einem Lieferweg durch die Ukraine. Die Situation ist auch deshalb brisant, weil die Erdgaspreise europaweit im Winterhalbjahr auf konjunkturbedrohliche Niveaus angestiegen sind. Zwar hat der bislang milde Winter den Erdgasverbrauch geschont, aber trotzdem treibt jegliche Eskalation die Energiepreise weiter nach oben. Damit würde die Inflationsrate in Deutschland noch länger auf einem sehr hohen Niveau verharren. Hohe Preise und insbesondere Lieferunterbrechungen würden die Konjunktur bremsen, die Klimaziele wären durch einen Rückgriff auf Kohle gefährdet. Auch mit Blick auf andere Rohstoffe wie Aluminium oder Palladium spielt Russland eine bedeutende Rolle. Sanktionen und Gegensanktionen könnten deutsche Schlüsselbranchen wie die Automobilindustrie oder den Maschinenbau über die Rohstoffseite in Bedrängnis bringen. Zwar würden wir im militärischen Eskalationsfall für das zweite Quartal 2022 noch ein Wachstum für die deutsche Volkswirtschaft erwarten, die Konjunktur wäre jedoch mindestens bis zur Jahresmitte deutlich eingebremst. Danach würden – ähnlich wie bei den Corona-Einschränkungen – Gewöhnungseffekte eintreten, und die Unternehmen könnten ihre Gewinne perspektivisch wieder steigern.

Höhere Schwankungen an den Finanzmärkten

Die Entscheidung Russlands, die Unabhängigkeit der selbsterkannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk anzuerkennen und Truppen dorthin zu entsenden, hat zu einem erneuten Kursrutsch am russischen Aktien- und Anleihemarkt sowie zu einer Abwertung des russischen Rubels geführt. Je konkreter das Szenario einer militärischen Eskalation wird, desto stärker reagieren auch die Aktienmärkte in Deutschland, Europa und den USA. Doch selbst bei tatsächlichen militärischen Auseinandersetzungen an der russisch-ukrainischen Grenze wären die Auswirkungen auf die Finanzmärkte zeitlich wie vom Ausmaß her wohl überschaubar.

Geostrategisch handelt es sich nach wie vor um einen lokalen Konflikt. Die gravierendsten längerfristigen Auswirkungen ergäben sich für russische Assets und die russische Wirtschaft. Hierzulande nähmen die Belastungen der Konjunktur zu, etwa über weiter steigende Energierohstoffpreise. Insgesamt würden diese Einschränkungen und die Energierisiken nicht ausreichen, um im Euro- raum oder in den USA einen langfristigen konjunkturellen Abschwung auszulösen. Wir halten an unserem aufwärtsgerichteten Konjunkturbild für die beiden kommenden Jahre fest, welches weiterhin Unterstützung insbesondere für die Aktienmärkte bietet. Die politisch bedingten Schwankungen wären – wenngleich sie kurzzeitig spürbar anstiegen – von begrenzter Dauer. Eine Spekulation auf solche Ereignisse bei der mittel- und langfristigen Geldanlage ist nach aller Erfahrung nicht sinnvoll.

Dr. Ulrich Kater, Chefvolkswirt der DekaBank
Dr. Ulrich Kater, Chefvolkswirt der DekaBank

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